Sonntag, 12. Februar 2012

Der Leierkastenmann - Eine Schauergeschichte Kurzgeschichtenwettbewerb "Diebe" literareon-Verlag



3. November 2009

Nach all den Jahren habe ich ihn heute zum ersten Mal wieder gehört. Es war ganz still und es dämmerte bereits. Ich war allein. Um mich herum wirbelte der Herbstwind die braunen und gelben Blätter zu wilden Höhenflügen auf. Einer spontanen Idee folgend ging ich nicht, wie sonst immer an der gut beleuchteten Hauptstraße entlang nach Hause, sondern wählte wie früher den kürzeren und schöneren Weg an der Bielert-Kirche und dem Opladener Weiher vorbei. 
Und genau wie früher beschlich mich auch heute wieder dieses kurze Gefühl von Furcht, sobald ich in die deutlich dunklere Bielertstraße einbog. Etwas war nicht richtig, aber ich wusste nicht, was es war. Groß und dunkel erhob sich die neoromanische Kirche zu meiner Rechten. Ein kurzer Blick genügte, dann sah ich wieder weg. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, wie die Inschrift lautete. "Allein Gott in der Höh sei Ehr". 
Um mich abzulenken, ging ich etwas schneller. Als ich so darüber nachzudenken versuchte, was Lisa wohl Gutes zum Abendbrot vorbereitet hatte, hörte ich es ganz plötzlich. Ein leises Klingeln, wie von vielen kleinen Glöckchen, noch weit entfernt, aber eindeutig näherkommend. Ich konnte es kaum glauben, mein Schrecken war so groß, dass ich erst stehenblieb und lauschte, bevor ich weitereilte. 
"Bitte mach, dass er es nicht ist!" ging es mir durch den Kopf, "Ich habe niemandem geschadet. Ich habe immer gut aufgepasst." Schon hatte ich den Weiher hinter mir gelassen, war an dem leeren Kinderspielplatz vorbei auf die Fußgängerbrücke über die Wupper gehastet, da begann er auch schon zu spielen. Die ersten, noch leisen Töne seines schäbigen Leierkastens raubten mir beinahe den Atem. Dumpf gluckerte die Wupper unter mir. Ich starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts ausmachen. 
Diese elende Musik, ich kannte diese Musik! Es war immer die eine Melodie, ein Kinderlied wohl, oder ein Weihnachtslied, eine weiche, unaufdringliche Melodie eigentlich, wären da nicht diese plötzlichen, disharmonischen Töne, die das Lied verunstalteten. Lauter und schriller als alle anderen, wurden sie nicht vom Wind herübergeweht, wie der Rest der Musik, vielmehr war es eher so, als ob man einen Pfeil in den Kopf geschossen bekäme, der einen kurzzeitig paralysierte. Die Zunge wurde einem schwer und ein beklemmendes Rauschen schien den Kopf auszufüllen.
Ich drehte mich nicht mehr um und ich blieb auch nicht mehr stehen. Langsam, die Handflächen auf die Ohren pressend, näherte ich mich dem Ende der Brücke. Die Zweige der Trauerweide pendelten  ziellos umher. Endlich erreichte ich die alte Steintreppe, die man, keiner weiß genau warum, schon immer Himmelsleiter genannt hatte. Mehrere der abschüssigen Stufen auf einmal nehmend, klammerte und zerrte ich mich an dem hellgrünen Geländer nach oben. Drei Absätze, fünfundvierzig Stufen, dann stand ich vor dem Sockel der kleinen, gemauerten Aussichtsplattform, die die Treppe in zwei schmalere Bogenaufgänge teilte. Links oder rechts? Rechts. Aber wenn ich rechts war, was war dann links? Nichts? 
Vier Stufen lang konnte man den anderen Aufgang nicht überblicken. Wie oft waren Klausi und ich als Kinder und auch später als junge Männer diese Treppe hinauf und hinabgegangen, auch an jenem denkwürdigen Tag vor einundzwanzig Jahren. Nicht mehr ganz nüchtern, wie meistens, aber in absoluter Hochstimmung. Lachend und scherzend waren wir zu den Wupperwiesen geeilt, um uns dort mit einer Flasche Rotwein den Nachmittag zu vertreiben.
Klausi, mein Freund - wie lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine Ewigkeit?
Ich hatte lange nicht an ihn gedacht, beinahe hatte ich ihn vergessen , doch nun war  mir sein Gesicht mit einem Mal wieder vor Augen, klar und deutlich. Ein entsetzlich schiefer, schriller Ton riss mich aus meinen Gedanken  Über die letzte Stufe stolpernd, rannte ich keuchend unter dem hölzernen Rosenspalier hindurch in die rettende Siedlung hinein und nach Hause.



6. November 2009

Lisa beobachtet mich. Ich habe ihr nichts erzählt neulich Abend, dennoch spüre ich genau, dass sie mich beobachtet.



7. November 2009

Heute beim Abendessen habe ich Lisa gefragt, wann sie zuletzt etwas von Klausi gehört hat. Es war nur eine beiläufige Frage, welche sie aber zu meinem Erstaunen völlig aus der Fassung brachte. Sie zuckte so stark zusammen, dass sie versehentlich ihr Glas umstieß, worauf sich ihr Wein über den ganzen Tisch ergoss und in einem schmalen Rinnsal auf den Fußboden tropfte. "Ich kenne keinen Klausi." murmelte sie im Hinausgehen. 
Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll.



9. November 2009

Ich hatte einen Traum. Zum allerersten Mal hörte ich den Leierkastenmann nicht nur, ich konnte ihn auch sehen. Mit dem Rücken zur Himmelsleiter, stand ich ihm auf der alten Brücke in einiger Entfernung gegenüber. Er spielte nicht, er sah mich nur an. Etwas Weißes bewegte sich auf dem antik anmutenden Kasten, ein Tier wohl, ich konnte es aber nicht genau erkennen. 
Leise klingelten die, an langen Schnüren aufgereihten Glöckchen. Angewidert und fasziniert zugleich, betrachtete ich sein ausgezehrtes, von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht. Unter einem sonderbar hohen Zylinder, der nach oben hin schmaler wurde, kamen klebrige lange Haarsträhnen hervor, die ihm über Nase und Ohren hingen. Beinahe, als flösse irgendeine schwarze Brühe aus dem Hut. Die Schöße seines abgetragenen, einst schwarzen Frackes flatterten im Wind. Er wollte, dass ich hinüberkam. "Du Narr!", dachte ich. 
Er kicherte und nickte dabei in einer ekelerregenden Weise mit dem Kopf, bevor er von einem Moment zum nächsten  plötzlich direkt vor mir war, seine überwältigend klaren, blauen Augen dicht vor meinen, um im darauffolgenden Moment wieder an seinem alten Platz zu stehen. Ich erwachte mit einem gedämpften Aufschrei.



10. November 2009

Die Augen lassen mich nicht mehr los. Dieses Blau, was ist das? Ist das Wasser? Ich darf mich nicht so gehen lassen, sonst...



11. November 2009

Konnte das Haus nicht verlassen, bin stattdessen den ganzen Tag im Bett geblieben. Lisa meint, etwas Ruhe würde mir gut tun, aber ich bezweifle das. Sobald ich, gleichgültig zu welcher Tageszeit, den Versuch mache, ein wenig Entspannung und Ablenkung zu finden, sehe ich diese riesigen Augen vor mir. Gegen meinen Willen versinke ich darin, als stünde ich ganz nah vor einem Aquarium, die Nase an das kühle Glas gepresst, wie ein Kind. 
Da waren milchig-grüne Algen, moosüberzogene Steine, knorrige Äste und Stämme, Luftblasen, viele Luftblasen und irgendein Gegenstand trieb leblos auf mich zu. Ein Körper? War das ein menschlicher Körper? Die langen, braunen Haare bewegten sich träge, ja fast anmutig in der Strömung wie Wasserpflanzen. Noch war mir sein Rücken zugewandt, aber schon schlingerte er, hilflos von einer Woge erfasst, um mir sein Gesicht zu zeigen. 
Klausi?



12. November 2009

Heute morgen, auf dem Weg zur Arbeit, es war noch dunkel und ein leichter Nieselregen benetzte die Straßen, habe ich mich dabei ertappt, wie ich völlig abwesend eine Melodie summte, die Melodie! Ich hatte es nicht bemerkt. Erst das entfernte Echo des Leierkastens, ließ mich entsetzt verstummen. 
(Ich begleite dich) Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen war ich, entgegen meiner Absicht, in die kleine Seitenstraße zur Himmelsleiter eingebogen und befand mich nur noch wenige Schritte vor der ersten Stufe nach unten.  
(Komm mit mir. Ich will dir etwas zeigen) Die Musik schwoll an, sie umschmeichelte meine Sinne, umgarnte mich auf eine schreckliche und zugleich wunderschöne Weise. Ich musste an einen Sommerabend an der Wupper denken, an ausgelassenes Lachen und flackernde Windlichter, junge Leute, die in weinseliger Stimmung scherzend in der Dämmerung herumalbern und abenteuerliche Pläne schmieden. Gefährliche Pläne. 'Wer als erster drüben ist!' Der kalte Stahl des Brückengeländers brennt unter meinen nackten Füßen. Ich balanciere auf der einen Seite und Klausi auf der anderen. Was habe ich getan? 
(Du hast ihn umgebracht) Niemals hätte ich das getan. 
Er ist abgestürzt, weil er betrunken war. Wir sind beide abgestürzt. 
(Er war ein guter Schwimmer und hätte überlebt. Du nicht) Noch im Fallen höre ich die erschrockenen Schreie der Anderen, bevor mir der harte Aufprall auf die Wasseroberfläche für einen, zum Glück nur kurzen Moment, die Sinne raubt um mich dann versinken zu lassen wie einen Stein. Ich kann nicht mehr atmen. Gelähmt vor Entsetzen, verharre ich bewegungslos auf dem Grund der Wupper, bis sich mit einem Mal das Gesicht meines Freundes vor mir aus der, mich überkommenden Dunkelheit schält. In wahnsinniger Panik presse ich meinen aufgerissenen Mund auf Klausi's Mund und sauge, seinen Kopf unerbittlich im Klammergriff haltend, alles Leben aus ihm heraus. Er leistet kaum Gegenwehr, in seinen aufgerissenen Augen spiegelt sich bis zuletzt grenzenloses Erstaunen. Sein Leben wird mein Leben. Es ist also wahr. 
(Du bist ein Dieb) Ja, das bin ich. Ich habe das Leben meines besten Freundes gestohlen.



13. November 2009

Dies sind die letzten Sätze, die ich in mein Tagebuch schreibe. Ich habe eine Verabredung und dieses Mal bin ich bereit, sie einzuhalten. 
Irgendwann ist es vorbei. Wenn um Mitternacht der Leierkastenmann an der Brücke auf mich wartet, werde ich ihm folgen. Die weiße Taube wird ihre Flügel ausbreiten und ich werde keine Angst mehr haben. Ich werde die Musik hören und das zarte Klingeln der Glöckchen. Es wird eines mehr sein, von diesem Moment an.