Samstag, 8. September 2012

Was ist Pictoplasma?



Falls auch Sie zwischen dem 11. und 15.April diesen Jahres zufällig in Berlin waren und sich des Eindruckes nicht erwehren konnten, die Außerirdischen seien in die Stadt eingefallen, kann ich Sie beruhigen.
Es besteht keine Gefahr für Leib und Leben. Weder in Berlin, noch in anderen Großstädten der Welt.
Sind Ihnen hüpfende Yetis begegnet, riesige gelbe Hasen, rote Plüschmonster oder eine gelbe Gummiente, so hoch wie ein Zweifamilienhaus? Keine Angst! Das waren nicht die "Frogs", sondern "Pictoplasma".
Pictoplasma ist der Name einer 1999 in Berlin gegründeten Gruppe von Künstlern.
Diese Gruppe sammelt, archiviert und untersucht reduzierte und abstrahierte Figurendarstellungen und hat ein weltweit agierendes Netzwerk von Künstlern und Kunstinteressierten etabliert. Eine genaue Bezeichnung für diese Beschäftigung gibt es nicht. Sie wird ausgeübt von Trickfilmern und Werbegraphikern, von bildenden Künstlern und Programmierern, von Designern und Ausstellungsmachern. Pictoplasma untersucht die neuen Möglichkeiten und Chancen der Figuren als Zeichen einer eigenständigen, graphischen Sprache.
Zu diesem Zweck werden die Figuren, oft auch Menschen in Kostümen, unter anderem in die Innenstädte zahlreicher Metropolen geschickt, an Strände, in Freizeitzentren, Konzernzentralen, Sportstätten, was nicht selten zu einigem Erstaunen und allgemeiner Verwirrung führt.
Pictoplasma ist zudem Veranstalter des jährlich stattfindenden Pictoplasma International Animation Festival und der Pictoplasma Conference. Auch 2012 fand wieder ein Pictoplasma Festival in Berlin statt.
Dieses weltweit größte Festival für zeitgenössisches "Charakter Design" ("reduzierte Figurendarstellung") lud wieder ein zum Character Walk durch Galerien und Projekträume. Wie immer gab es vieles zu entdecken: Character + Graphic Design, Illustration, Motion Graphics, CGI, Fashion, Animation, Malerei, Skulptur, Urban Arts, ...
Also: falls Sie demnächst einen Yeti mit Einkaufswagen treffen sollten. Fürchten Sie sich nicht.
Es ist "nur" Kunst. Eine, wie ich finde, ganz besonders unterhaltsame und spannende Form der Kunst. 

www.pictoplasma.com










Mittwoch, 22. August 2012

Collateral Murder

Ich schreibe heute über etwas, das weder mit Kunst noch mit Kokolores viel zu tun hat, mir aber dennoch am Herzen liegt. Als Kokolores könnte man es vielleicht noch bezeichnen, allerdings nur in seiner absolut negativsten, schwachsinnigsten und widerwärtigsten Form. 
Fern jeglicher Komik.

Vor einigen Tagen habe ich zum ersten mal das bereits 2010 (!) von WikiLeaks veröffentlichte Video "Collateral Murder" gesehen. Ich betone diese Tatsache deshalb, weil dieses Video immerhin schon seit zwei Jahren der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist und ich es dennoch nicht kannte. Und ich bin sicher, dass es nicht nur mir so geht, denn jeder dem ich davon erzählt habe, egal ob jung oder alt, kannte es ebenfalls nicht. Ich weiß nicht, warum. Jeder sollte es kennen.

Erst durch das gegenwärtige Theater in der ecuadorianischen Botschaft in London wurde ich darauf aufmerksam. Dort hält sich seit Mitte Juni der WikiLeaks-Gründer Julian Assange auf, um sich seiner Auslieferung nach Schweden zu entziehen, wo er zu dubiosen Vorwürfen sexueller Übergriffe befragt werden soll. Sprich: eine Anklage wegen Vergewaltigung.

Interessant zu wissen, dass man in Schweden unter einer Vergewaltigung nicht das gleiche versteht, wie bei uns. Dort gilt es beispielsweise schon als Vergewaltigung, wenn bei einvernehmlichem Sex während des Akts das Kondom verrutscht. Das wird dann als strafbare Handlung des Mannes gewertet und mit einem Minimum von zwei Jahren bestraft. 
Ebenfalls interessant zu wissen, dass einiges darauf hindeutet, dass das vermeintliche Opfer Anne Ardin - Sekretärin der "Christlichen Schwedischen Bruderschaft", die Assange nach Schweden eigeladen hatte - seit längerer Zeit Kontakte zur CIA unterhält. 
Na, wer hätte das gedacht? Eigentlich jeder, der nicht hirntot ist.

Denn falls Julian Assange womöglich doch noch von Ecuador an England, und dann postwendend von England nach Schweden ausgeliefert wird, könnte ihm anschließend eine Auslieferung an die USA drohen, wo ihm wegen Geheimnisverrats im schlimmsten Fall die Todesstrafe drohen würde.

Dieser Geheimnisverrat bezieht sich unter anderem auch die Veröffentlichung von "Collateral Murder", einem geheimen Militärvideo, aufgenommen aus einem Apache-Kampfhubschrauber namens "Crazy Horse" während eines Einsatzes im Irak im Juni 2007. Dabei waren zwölf Personen erschossen worden, darunter zwei irakische Journalisten, die für die Nachrichtenagentur Reuters arbeiteten. Zwei Kinder wurden verletzt.

Ich möchte hier im folgenden einen Artikel wiedergeben, den der Autor Simon Columbus 2010 auf "Spreeblick" veröffentlicht hat. (http://www.spreeblick.com/2010/04/06/collateral-murder-der-moderne-krieg/) Besser als er kann man es nicht beschreiben. :

Die Aufnahmen zeigen einen Luftangriff auf eine Menschengruppe in Bagdad am 12. Juli 2007. Ein Helikopter schwebt über einem Platz, der von einer kleinen Menschengruppe überquert wird. Die amerikanischen Soldaten meinen, bewaffnete Aufständische zu sehen, bewaffnet mit AK47s und einer Bazooka. Einer meldet Schüsse. Die Helikopter-Besatzung fordert eine Einsatzerlaubnis an. „Request permission to engage“, heißt das in der militärischen Ausdrucksweise. Dann wird das Feuer eröffnet.

Einige Zeit später erscheint ein Minibus, dessen Insassen einen Verletzten aufsammeln. „Come on, let us shoot“, fordert einer der Soldaten ungeduldig von der Kommandatur, obwohl keine Bewaffneten in Sicht sind. Daraufhin wird der Bus ebenfalls beschossen. Schließlich tauchen amerikanische Panzer auf.

Als sie über einen am Boden liegenden Körper zu fahren scheinen, kommentieren die Soldaten im Helikopter das mit einem lapidaren Lachen. „Really? – Yeah“. Nachdem zwei Kinder aus dem Bus evakuiert wurden, schieben sie die Schuld an deren Verletzung auf die Iraker: „Well it’s their fault for bringing kids in to a battle.“





Insgesamt starben bei dem Vorfall vor zwei Jahren mindestens elf Personen. Die beiden Kinder, die sich in dem zu Hilfe eilenden Minibus befanden, wurden verletzt.

Warum die Gruppe beschossen wurde, ist nicht klar. Das amerikanische Militär behauptet, sich an die Regeln für den Einsatz („rules of engagement“) gehalten zu haben. Es gab zuerst an, alle Getöteten seien Aufständische gewesen, später hieß es, die Soldaten hatten auf Schüsse reagiert. Wie die Kinder verletzt worden seien, wisse er nicht, erklärte Major Brent Cummings schon 2007 in der Washington Post:
No innocent civilians were killed on our part deliberately. We took great pains to prevent that. I know that two children were hurt, and we did everything we could to help them. I don’t know how the children were hurt.
Wikileaks-Mitgründer Julian Assange hält diese Darstellung für falsch, das belege das Video. Schüsse von Seiten der Iraker sind darauf nicht zu erkennen. Und Assage meint, niemand würde sich in der Gegenwart zweier Apache-Helikopter ruhig verhalten, „wenn er eine Bazooka trägt und er ein Feind der Vereinigten Staaten ist“.

Die Aufnahmen weisen vielmehr darauf hin, dass es sich bei den Getöteten um Zivilisten handelte, eine Version, die auch die irakische Polizei von Anfang an vertrat. Doch was war dann der Grund für den Angriff? Die Soldaten könnten die Kameras, die Noor-Eldin und Chmagh trugen, für Waffen gehalten haben. Während der Videosequenz, in der sie von identifizierten Bewaffneten sprechen, liegt das Fadenkreuz auf dem Photographen und seinem Assistenten.

Wie Wikileaks an das Video gelangt ist, verriet Assange nicht. Nur so viel: Man habe es aus Militärkreisen erhalten und zuerst eine Verschlüsselung knacken müssen, um an das Filmmaterial zu gelangen. Zuvor hatte bereits Reuters versucht, die Aufnahmen von der Tötung seines Journalisten zu erhalten. Die Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz („FOIA request“) war allerdings am Widerstand des Pentagons gescheitert.
Die USA haben offensichtlich ein starkes Interesse daran, dass die Inhalte des Videos nicht publik werden. Immerhin wird darin deutlich, dass die Armee die Öffentlichkeit getäuscht hat, als sie von einem ordnungsgemäßen Einsatz sprach. Das, soviel ist nach diesen knapp 40 Minuten Film klar, ist unhaltbar geworden.

Julian Assange spricht im Interview mit Russia Today sogar von „Kriegsverbrechen“. Und dabei handele es sich nicht um einen Einzelfall – jeglicher Beschuss sei mit der Kommandatur abgesprochen. „The problem is not just a few [...] pilots. This is a systemic problem at the company level and in the rules of engagement.“
Systematische Kriegsverbrechen durch die US-Armee im Irak also? Das ist, so ehrlich muss man sein, nichts Neues. Und bisher hatte die Wahrheit mit dem Pentagon hart zu kämpfen. Selbst in den größten Skandalen – man erinnere sich an Abu Ghreib – wurden lediglich einzelne Soldaten verurteilt. In den meisten Fällen beharrt die Armee darauf, dass ihre Angehörigen richtig gehandelt haben – seien es die tödlichen Schüsse auf den Befreier von Giuliana Sgrena oder die auf den Journalisten Terry Lloyd.

Kann wenigstens im Fall von Noor-Eldin und Chmagh und den anderen Getöteten ein Beweisvideo für das Sorgen, was man gemeinhin Gerechtigkeit nennt? Immerhin ist seitdem eine andere Regierung in den USA an die Macht gekommen, und Barack Obama hat „change“ versprochen. Aber der Militärapparat ist starr und nicht von heute auf morgen gewandelt. So ist der Leak von Assange und Co. ein Ansatzpunkt, aber wirkliche Hoffnung auf eine Aufarbeitung der tödlichen Schüsse sollte man sich nicht machen.

Abseits des juristischen gibt es allerdings noch einen Grund, warum man sich wünschen sollte, dass „Collateral Murder“ Tiger Woods und seine Affären von den Schlagzeilen verdrängen kann. Nichts zeigt das besser als die Berichterstattung der Washington Post nach dem ursprünglichen Vorfall. Zwar war dieser der Zeitung immerhin einen Bericht wert. Aber der hält sich ganz an das, was das Militär sagt. Schon die einleitende Beschreibung ist ganz von amerikanischen Soldaten übernommen:
U.S. soldiers in eastern Baghdad clashed with Shiite militiamen on Thursday, leaving at least 11 Iraqis dead and an unknown number injured, including two children hit by shrapnel from a U.S. helicopter attack, according to American soldiers who took part in the mission.
Das Bild, das die amerikanische Bevölkerung vom Krieg ihrer Regierung im Irak hat, stammt aus Medien, deren Arbeit geprägt ist durch „embedded journalism“ und eine besonders anfangs unisono geäußerte Unterstützung für den Angriff. Rohmaterial wie das, was Wikileaks nun veröffentlicht hat, kann diese Mauer der Verfälschung durchbrechen und ein wirklicheres Bild der Situation im Irak vermitteln.
Das Video enthält, wie Julian Assange sagt, vieles von dem, was modernen Krieg ausmacht. So zeigt es das zutiefst asymmetrische Verhältnis zwischen den Piloten und Personen am Boden. Aber am eindrucksvollsten ist es als Abbild der moralischen Deformation der Soldaten. Oder, wie Assange es nennt, ihrer „Entwürdigung“.

Die Kommentare der Helikopter-Besatzung könnten genauso gut von einer Bande CounterStrike spielender Jugendlicher kommen. Es scheint, als sei der Krieg für sie wie ein Videospiel, bei dem es darum geht, durch das Abschießen von Gegnern eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. Sie freuen sich über gelungene Schüsse – „nice. good shoot’n. – thank you“ – und wirken geradezu ungeduldig, wenn sie auf den Befehl zum Töten warten.

Eingeschworen darauf, dass es sich bei den Menschen dort unten um ihre Feinde handelt, schweben sie über dem Geschehen. Wen sie beschießen, sehen sie nur auf einem Bildschirm. Gesichter kann man darauf nicht erkennen, die Personen am Boden sind aus dieser Perspektive genauso virtuell und anonym wie gegnerische Avatare in einem Videospiel. Dabei bleibt es unverzeihlich, aber natürlich gewollt, dass diese jungen Amerikaner ihre Situation nicht durchschauen, sondern genau so annehmen.

In einer Szene kriecht eine getroffene Person verwundet über den Boden, vermutlich ist es Said Chmagh. Die Soldaten feuern ihn an, endlich eine Waffe zu nehmen. Warum? Weil sie ihn dann erschießen dürfen, das sagen die „rules of engagement“. Töten als Teil eines Spiels – mit einfachen Regeln und scharfen Waffen."

Simon Columbus 2010


Ergänzen möchte ich nur noch folgendes:


Im Mai 2010 verhaftete das US-Militär den damals 22-jährigen Soldaten Bradley Manning. Er soll geheimes Videomaterial (unter anderem auch dieses Video),sowie andere interne Berichte von US-Botschaften an WikiLeaks weiterge­geben haben. Wird Manning schuldig gesprochen, droht ihm lebenslange Haft.














Sonntag, 12. Februar 2012

Der Leierkastenmann - Eine Schauergeschichte Kurzgeschichtenwettbewerb "Diebe" literareon-Verlag



3. November 2009

Nach all den Jahren habe ich ihn heute zum ersten Mal wieder gehört. Es war ganz still und es dämmerte bereits. Ich war allein. Um mich herum wirbelte der Herbstwind die braunen und gelben Blätter zu wilden Höhenflügen auf. Einer spontanen Idee folgend ging ich nicht, wie sonst immer an der gut beleuchteten Hauptstraße entlang nach Hause, sondern wählte wie früher den kürzeren und schöneren Weg an der Bielert-Kirche und dem Opladener Weiher vorbei. 
Und genau wie früher beschlich mich auch heute wieder dieses kurze Gefühl von Furcht, sobald ich in die deutlich dunklere Bielertstraße einbog. Etwas war nicht richtig, aber ich wusste nicht, was es war. Groß und dunkel erhob sich die neoromanische Kirche zu meiner Rechten. Ein kurzer Blick genügte, dann sah ich wieder weg. Ich musste nicht hinsehen, um zu wissen, wie die Inschrift lautete. "Allein Gott in der Höh sei Ehr". 
Um mich abzulenken, ging ich etwas schneller. Als ich so darüber nachzudenken versuchte, was Lisa wohl Gutes zum Abendbrot vorbereitet hatte, hörte ich es ganz plötzlich. Ein leises Klingeln, wie von vielen kleinen Glöckchen, noch weit entfernt, aber eindeutig näherkommend. Ich konnte es kaum glauben, mein Schrecken war so groß, dass ich erst stehenblieb und lauschte, bevor ich weitereilte. 
"Bitte mach, dass er es nicht ist!" ging es mir durch den Kopf, "Ich habe niemandem geschadet. Ich habe immer gut aufgepasst." Schon hatte ich den Weiher hinter mir gelassen, war an dem leeren Kinderspielplatz vorbei auf die Fußgängerbrücke über die Wupper gehastet, da begann er auch schon zu spielen. Die ersten, noch leisen Töne seines schäbigen Leierkastens raubten mir beinahe den Atem. Dumpf gluckerte die Wupper unter mir. Ich starrte in die Dunkelheit, konnte aber nichts ausmachen. 
Diese elende Musik, ich kannte diese Musik! Es war immer die eine Melodie, ein Kinderlied wohl, oder ein Weihnachtslied, eine weiche, unaufdringliche Melodie eigentlich, wären da nicht diese plötzlichen, disharmonischen Töne, die das Lied verunstalteten. Lauter und schriller als alle anderen, wurden sie nicht vom Wind herübergeweht, wie der Rest der Musik, vielmehr war es eher so, als ob man einen Pfeil in den Kopf geschossen bekäme, der einen kurzzeitig paralysierte. Die Zunge wurde einem schwer und ein beklemmendes Rauschen schien den Kopf auszufüllen.
Ich drehte mich nicht mehr um und ich blieb auch nicht mehr stehen. Langsam, die Handflächen auf die Ohren pressend, näherte ich mich dem Ende der Brücke. Die Zweige der Trauerweide pendelten  ziellos umher. Endlich erreichte ich die alte Steintreppe, die man, keiner weiß genau warum, schon immer Himmelsleiter genannt hatte. Mehrere der abschüssigen Stufen auf einmal nehmend, klammerte und zerrte ich mich an dem hellgrünen Geländer nach oben. Drei Absätze, fünfundvierzig Stufen, dann stand ich vor dem Sockel der kleinen, gemauerten Aussichtsplattform, die die Treppe in zwei schmalere Bogenaufgänge teilte. Links oder rechts? Rechts. Aber wenn ich rechts war, was war dann links? Nichts? 
Vier Stufen lang konnte man den anderen Aufgang nicht überblicken. Wie oft waren Klausi und ich als Kinder und auch später als junge Männer diese Treppe hinauf und hinabgegangen, auch an jenem denkwürdigen Tag vor einundzwanzig Jahren. Nicht mehr ganz nüchtern, wie meistens, aber in absoluter Hochstimmung. Lachend und scherzend waren wir zu den Wupperwiesen geeilt, um uns dort mit einer Flasche Rotwein den Nachmittag zu vertreiben.
Klausi, mein Freund - wie lange hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Eine Ewigkeit?
Ich hatte lange nicht an ihn gedacht, beinahe hatte ich ihn vergessen , doch nun war  mir sein Gesicht mit einem Mal wieder vor Augen, klar und deutlich. Ein entsetzlich schiefer, schriller Ton riss mich aus meinen Gedanken  Über die letzte Stufe stolpernd, rannte ich keuchend unter dem hölzernen Rosenspalier hindurch in die rettende Siedlung hinein und nach Hause.



6. November 2009

Lisa beobachtet mich. Ich habe ihr nichts erzählt neulich Abend, dennoch spüre ich genau, dass sie mich beobachtet.



7. November 2009

Heute beim Abendessen habe ich Lisa gefragt, wann sie zuletzt etwas von Klausi gehört hat. Es war nur eine beiläufige Frage, welche sie aber zu meinem Erstaunen völlig aus der Fassung brachte. Sie zuckte so stark zusammen, dass sie versehentlich ihr Glas umstieß, worauf sich ihr Wein über den ganzen Tisch ergoss und in einem schmalen Rinnsal auf den Fußboden tropfte. "Ich kenne keinen Klausi." murmelte sie im Hinausgehen. 
Ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll.



9. November 2009

Ich hatte einen Traum. Zum allerersten Mal hörte ich den Leierkastenmann nicht nur, ich konnte ihn auch sehen. Mit dem Rücken zur Himmelsleiter, stand ich ihm auf der alten Brücke in einiger Entfernung gegenüber. Er spielte nicht, er sah mich nur an. Etwas Weißes bewegte sich auf dem antik anmutenden Kasten, ein Tier wohl, ich konnte es aber nicht genau erkennen. 
Leise klingelten die, an langen Schnüren aufgereihten Glöckchen. Angewidert und fasziniert zugleich, betrachtete ich sein ausgezehrtes, von tiefen Furchen durchzogenes Gesicht. Unter einem sonderbar hohen Zylinder, der nach oben hin schmaler wurde, kamen klebrige lange Haarsträhnen hervor, die ihm über Nase und Ohren hingen. Beinahe, als flösse irgendeine schwarze Brühe aus dem Hut. Die Schöße seines abgetragenen, einst schwarzen Frackes flatterten im Wind. Er wollte, dass ich hinüberkam. "Du Narr!", dachte ich. 
Er kicherte und nickte dabei in einer ekelerregenden Weise mit dem Kopf, bevor er von einem Moment zum nächsten  plötzlich direkt vor mir war, seine überwältigend klaren, blauen Augen dicht vor meinen, um im darauffolgenden Moment wieder an seinem alten Platz zu stehen. Ich erwachte mit einem gedämpften Aufschrei.



10. November 2009

Die Augen lassen mich nicht mehr los. Dieses Blau, was ist das? Ist das Wasser? Ich darf mich nicht so gehen lassen, sonst...



11. November 2009

Konnte das Haus nicht verlassen, bin stattdessen den ganzen Tag im Bett geblieben. Lisa meint, etwas Ruhe würde mir gut tun, aber ich bezweifle das. Sobald ich, gleichgültig zu welcher Tageszeit, den Versuch mache, ein wenig Entspannung und Ablenkung zu finden, sehe ich diese riesigen Augen vor mir. Gegen meinen Willen versinke ich darin, als stünde ich ganz nah vor einem Aquarium, die Nase an das kühle Glas gepresst, wie ein Kind. 
Da waren milchig-grüne Algen, moosüberzogene Steine, knorrige Äste und Stämme, Luftblasen, viele Luftblasen und irgendein Gegenstand trieb leblos auf mich zu. Ein Körper? War das ein menschlicher Körper? Die langen, braunen Haare bewegten sich träge, ja fast anmutig in der Strömung wie Wasserpflanzen. Noch war mir sein Rücken zugewandt, aber schon schlingerte er, hilflos von einer Woge erfasst, um mir sein Gesicht zu zeigen. 
Klausi?



12. November 2009

Heute morgen, auf dem Weg zur Arbeit, es war noch dunkel und ein leichter Nieselregen benetzte die Straßen, habe ich mich dabei ertappt, wie ich völlig abwesend eine Melodie summte, die Melodie! Ich hatte es nicht bemerkt. Erst das entfernte Echo des Leierkastens, ließ mich entsetzt verstummen. 
(Ich begleite dich) Aus mir völlig unbegreiflichen Gründen war ich, entgegen meiner Absicht, in die kleine Seitenstraße zur Himmelsleiter eingebogen und befand mich nur noch wenige Schritte vor der ersten Stufe nach unten.  
(Komm mit mir. Ich will dir etwas zeigen) Die Musik schwoll an, sie umschmeichelte meine Sinne, umgarnte mich auf eine schreckliche und zugleich wunderschöne Weise. Ich musste an einen Sommerabend an der Wupper denken, an ausgelassenes Lachen und flackernde Windlichter, junge Leute, die in weinseliger Stimmung scherzend in der Dämmerung herumalbern und abenteuerliche Pläne schmieden. Gefährliche Pläne. 'Wer als erster drüben ist!' Der kalte Stahl des Brückengeländers brennt unter meinen nackten Füßen. Ich balanciere auf der einen Seite und Klausi auf der anderen. Was habe ich getan? 
(Du hast ihn umgebracht) Niemals hätte ich das getan. 
Er ist abgestürzt, weil er betrunken war. Wir sind beide abgestürzt. 
(Er war ein guter Schwimmer und hätte überlebt. Du nicht) Noch im Fallen höre ich die erschrockenen Schreie der Anderen, bevor mir der harte Aufprall auf die Wasseroberfläche für einen, zum Glück nur kurzen Moment, die Sinne raubt um mich dann versinken zu lassen wie einen Stein. Ich kann nicht mehr atmen. Gelähmt vor Entsetzen, verharre ich bewegungslos auf dem Grund der Wupper, bis sich mit einem Mal das Gesicht meines Freundes vor mir aus der, mich überkommenden Dunkelheit schält. In wahnsinniger Panik presse ich meinen aufgerissenen Mund auf Klausi's Mund und sauge, seinen Kopf unerbittlich im Klammergriff haltend, alles Leben aus ihm heraus. Er leistet kaum Gegenwehr, in seinen aufgerissenen Augen spiegelt sich bis zuletzt grenzenloses Erstaunen. Sein Leben wird mein Leben. Es ist also wahr. 
(Du bist ein Dieb) Ja, das bin ich. Ich habe das Leben meines besten Freundes gestohlen.



13. November 2009

Dies sind die letzten Sätze, die ich in mein Tagebuch schreibe. Ich habe eine Verabredung und dieses Mal bin ich bereit, sie einzuhalten. 
Irgendwann ist es vorbei. Wenn um Mitternacht der Leierkastenmann an der Brücke auf mich wartet, werde ich ihm folgen. Die weiße Taube wird ihre Flügel ausbreiten und ich werde keine Angst mehr haben. Ich werde die Musik hören und das zarte Klingeln der Glöckchen. Es wird eines mehr sein, von diesem Moment an.