Fern jeglicher Komik.
Vor einigen Tagen habe ich zum ersten mal das bereits 2010 (!) von WikiLeaks veröffentlichte Video "Collateral Murder" gesehen. Ich betone diese Tatsache deshalb, weil dieses Video immerhin schon seit zwei Jahren der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist und ich es dennoch nicht kannte. Und ich bin sicher, dass es nicht nur mir so geht, denn jeder dem ich davon erzählt habe, egal ob jung oder alt, kannte es ebenfalls nicht. Ich weiß nicht, warum. Jeder sollte es kennen.
Erst durch das gegenwärtige Theater in der ecuadorianischen Botschaft in London wurde ich darauf aufmerksam. Dort hält sich seit Mitte Juni der WikiLeaks-Gründer Julian Assange auf, um sich seiner Auslieferung nach Schweden zu entziehen, wo er zu dubiosen Vorwürfen sexueller Übergriffe befragt werden soll. Sprich: eine Anklage wegen Vergewaltigung.
Interessant zu wissen, dass man in Schweden unter einer Vergewaltigung nicht das gleiche versteht, wie bei uns. Dort gilt es beispielsweise schon als Vergewaltigung, wenn bei einvernehmlichem Sex während des Akts das Kondom verrutscht. Das wird dann als strafbare Handlung des Mannes gewertet und mit einem Minimum von zwei Jahren bestraft.
Ebenfalls interessant zu wissen, dass einiges darauf hindeutet, dass das vermeintliche Opfer Anne Ardin - Sekretärin der "Christlichen Schwedischen Bruderschaft", die Assange nach Schweden eigeladen hatte - seit längerer Zeit Kontakte zur CIA unterhält.
Na, wer hätte das gedacht? Eigentlich jeder, der nicht hirntot ist.
Denn falls Julian Assange womöglich doch noch von Ecuador an England, und dann postwendend von England nach Schweden ausgeliefert wird, könnte ihm anschließend eine Auslieferung an die USA drohen, wo ihm wegen Geheimnisverrats im schlimmsten Fall die Todesstrafe drohen würde.
Dieser Geheimnisverrat bezieht sich unter anderem auch die Veröffentlichung von "Collateral Murder", einem geheimen Militärvideo, aufgenommen aus einem Apache-Kampfhubschrauber namens "Crazy Horse" während eines Einsatzes im Irak im Juni 2007. Dabei waren zwölf Personen erschossen worden, darunter zwei irakische Journalisten, die für die Nachrichtenagentur Reuters arbeiteten. Zwei Kinder wurden verletzt.
Ich möchte hier im folgenden einen Artikel wiedergeben, den der Autor Simon Columbus 2010 auf "Spreeblick" veröffentlicht hat. (http://www.spreeblick.com/2010/04/06/collateral-murder-der-moderne-krieg/) Besser als er kann man es nicht beschreiben. :
Die Aufnahmen zeigen einen Luftangriff auf eine Menschengruppe in Bagdad am 12. Juli 2007. Ein Helikopter schwebt über einem Platz, der von einer kleinen Menschengruppe überquert wird. Die amerikanischen Soldaten meinen, bewaffnete Aufständische zu sehen, bewaffnet mit AK47s und einer Bazooka. Einer meldet Schüsse. Die Helikopter-Besatzung fordert eine Einsatzerlaubnis an. „Request permission to engage“, heißt das in der militärischen Ausdrucksweise. Dann wird das Feuer eröffnet.
Einige Zeit später erscheint ein Minibus, dessen Insassen einen Verletzten aufsammeln. „Come on, let us shoot“, fordert einer der Soldaten ungeduldig von der Kommandatur, obwohl keine Bewaffneten in Sicht sind. Daraufhin wird der Bus ebenfalls beschossen. Schließlich tauchen amerikanische Panzer auf.
Als sie über einen am Boden liegenden Körper zu fahren scheinen, kommentieren die Soldaten im Helikopter das mit einem lapidaren Lachen. „Really? – Yeah“. Nachdem zwei Kinder aus dem Bus evakuiert wurden, schieben sie die Schuld an deren Verletzung auf die Iraker: „Well it’s their fault for bringing kids in to a battle.“
Insgesamt starben bei dem Vorfall vor zwei Jahren mindestens elf Personen. Die beiden Kinder, die sich in dem zu Hilfe eilenden Minibus befanden, wurden verletzt.
Warum die Gruppe beschossen wurde, ist nicht klar. Das amerikanische Militär behauptet, sich an die Regeln für den Einsatz („rules of engagement“) gehalten zu haben. Es gab zuerst an, alle Getöteten seien Aufständische gewesen, später hieß es, die Soldaten hatten auf Schüsse reagiert. Wie die Kinder verletzt worden seien, wisse er nicht, erklärte Major Brent Cummings schon 2007 in der Washington Post:
No innocent civilians were killed on our part deliberately. We took great pains to prevent that. I know that two children were hurt, and we did everything we could to help them. I don’t know how the children were hurt.Wikileaks-Mitgründer Julian Assange hält diese Darstellung für falsch, das belege das Video. Schüsse von Seiten der Iraker sind darauf nicht zu erkennen. Und Assage meint, niemand würde sich in der Gegenwart zweier Apache-Helikopter ruhig verhalten, „wenn er eine Bazooka trägt und er ein Feind der Vereinigten Staaten ist“.
Die Aufnahmen weisen vielmehr darauf hin, dass es sich bei den Getöteten um Zivilisten handelte, eine Version, die auch die irakische Polizei von Anfang an vertrat. Doch was war dann der Grund für den Angriff? Die Soldaten könnten die Kameras, die Noor-Eldin und Chmagh trugen, für Waffen gehalten haben. Während der Videosequenz, in der sie von identifizierten Bewaffneten sprechen, liegt das Fadenkreuz auf dem Photographen und seinem Assistenten.
Wie Wikileaks an das Video gelangt ist, verriet Assange nicht. Nur so viel: Man habe es aus Militärkreisen erhalten und zuerst eine Verschlüsselung knacken müssen, um an das Filmmaterial zu gelangen. Zuvor hatte bereits Reuters versucht, die Aufnahmen von der Tötung seines Journalisten zu erhalten. Die Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz („FOIA request“) war allerdings am Widerstand des Pentagons gescheitert.
Die USA haben offensichtlich ein starkes Interesse daran, dass die Inhalte des Videos nicht publik werden. Immerhin wird darin deutlich, dass die Armee die Öffentlichkeit getäuscht hat, als sie von einem ordnungsgemäßen Einsatz sprach. Das, soviel ist nach diesen knapp 40 Minuten Film klar, ist unhaltbar geworden.
Julian Assange spricht im Interview mit Russia Today sogar von „Kriegsverbrechen“. Und dabei handele es sich nicht um einen Einzelfall – jeglicher Beschuss sei mit der Kommandatur abgesprochen. „The problem is not just a few [...] pilots. This is a systemic problem at the company level and in the rules of engagement.“
Systematische Kriegsverbrechen durch die US-Armee im Irak also? Das ist, so ehrlich muss man sein, nichts Neues. Und bisher hatte die Wahrheit mit dem Pentagon hart zu kämpfen. Selbst in den größten Skandalen – man erinnere sich an Abu Ghreib – wurden lediglich einzelne Soldaten verurteilt. In den meisten Fällen beharrt die Armee darauf, dass ihre Angehörigen richtig gehandelt haben – seien es die tödlichen Schüsse auf den Befreier von Giuliana Sgrena oder die auf den Journalisten Terry Lloyd.
Kann wenigstens im Fall von Noor-Eldin und Chmagh und den anderen Getöteten ein Beweisvideo für das Sorgen, was man gemeinhin Gerechtigkeit nennt? Immerhin ist seitdem eine andere Regierung in den USA an die Macht gekommen, und Barack Obama hat „change“ versprochen. Aber der Militärapparat ist starr und nicht von heute auf morgen gewandelt. So ist der Leak von Assange und Co. ein Ansatzpunkt, aber wirkliche Hoffnung auf eine Aufarbeitung der tödlichen Schüsse sollte man sich nicht machen.
Abseits des juristischen gibt es allerdings noch einen Grund, warum man sich wünschen sollte, dass „Collateral Murder“ Tiger Woods und seine Affären von den Schlagzeilen verdrängen kann. Nichts zeigt das besser als die Berichterstattung der Washington Post nach dem ursprünglichen Vorfall. Zwar war dieser der Zeitung immerhin einen Bericht wert. Aber der hält sich ganz an das, was das Militär sagt. Schon die einleitende Beschreibung ist ganz von amerikanischen Soldaten übernommen:
U.S. soldiers in eastern Baghdad clashed with Shiite militiamen on Thursday, leaving at least 11 Iraqis dead and an unknown number injured, including two children hit by shrapnel from a U.S. helicopter attack, according to American soldiers who took part in the mission.Das Bild, das die amerikanische Bevölkerung vom Krieg ihrer Regierung im Irak hat, stammt aus Medien, deren Arbeit geprägt ist durch „embedded journalism“ und eine besonders anfangs unisono geäußerte Unterstützung für den Angriff. Rohmaterial wie das, was Wikileaks nun veröffentlicht hat, kann diese Mauer der Verfälschung durchbrechen und ein wirklicheres Bild der Situation im Irak vermitteln.
Das Video enthält, wie Julian Assange sagt, vieles von dem, was modernen Krieg ausmacht. So zeigt es das zutiefst asymmetrische Verhältnis zwischen den Piloten und Personen am Boden. Aber am eindrucksvollsten ist es als Abbild der moralischen Deformation der Soldaten. Oder, wie Assange es nennt, ihrer „Entwürdigung“.
Die Kommentare der Helikopter-Besatzung könnten genauso gut von einer Bande CounterStrike spielender Jugendlicher kommen. Es scheint, als sei der Krieg für sie wie ein Videospiel, bei dem es darum geht, durch das Abschießen von Gegnern eine möglichst hohe Punktzahl zu erreichen. Sie freuen sich über gelungene Schüsse – „nice. good shoot’n. – thank you“ – und wirken geradezu ungeduldig, wenn sie auf den Befehl zum Töten warten.
Eingeschworen darauf, dass es sich bei den Menschen dort unten um ihre Feinde handelt, schweben sie über dem Geschehen. Wen sie beschießen, sehen sie nur auf einem Bildschirm. Gesichter kann man darauf nicht erkennen, die Personen am Boden sind aus dieser Perspektive genauso virtuell und anonym wie gegnerische Avatare in einem Videospiel. Dabei bleibt es unverzeihlich, aber natürlich gewollt, dass diese jungen Amerikaner ihre Situation nicht durchschauen, sondern genau so annehmen.
In einer Szene kriecht eine getroffene Person verwundet über den Boden, vermutlich ist es Said Chmagh. Die Soldaten feuern ihn an, endlich eine Waffe zu nehmen. Warum? Weil sie ihn dann erschießen dürfen, das sagen die „rules of engagement“. Töten als Teil eines Spiels – mit einfachen Regeln und scharfen Waffen."
Simon Columbus 2010
Ergänzen möchte ich nur noch folgendes:
Im Mai 2010 verhaftete das US-Militär den damals 22-jährigen Soldaten Bradley Manning. Er soll geheimes Videomaterial (unter anderem auch dieses Video),sowie andere interne Berichte von US-Botschaften an WikiLeaks weitergegeben haben. Wird Manning schuldig gesprochen, droht ihm lebenslange Haft.